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Kurzweiliges - Geschichten gegen den Alltag



Geschichten

Folge 014: Singularität

von g. blondes

Ich stehe auf dem Dach des zehnstöckigen Gebäudes. Ich stehe am Rand, während mein Universum kollabiert. In meiner Hand ein kleiner Zettel.
Es wird dunkel. Es gab Zeiten, in denen mein Universum sich ausdehnte, wuchs. Aber es hat zuviel Masse. Zu viele komplexe Strukturen, schwarze Löcher, die mir das Licht nehmen.
Es wird kalt. Natürlich erinnere ich mich an die warmen, schönen Momente meines Lebens. Zumindest weiß ich, daß es sie gab. Aber sie endeten alle in Schmerz und Unsicherheit. Vielleicht wäre ich nicht hier, wenn es bloß ein paar Momente weniger gewesen wären. Weniger Masse, die ineinander stürzt. Ich setze mich, blicke hinab. Ich bin nicht schwindelfrei. Ich versuche, meinen Körper davon zu überzeugen, daß es ihm nichts nützt, in Panik zu geraten. Ich rede auf ihn ein, er soll endlich den Herzschlag verlangsamen. Ich flehe ihn an, mir etwas Ruhe zu gönnen. Aber mein Körper reagiert nicht mehr. Ich nehme es ihm nicht übel. Wochenlang habe ich nicht auf ihn reagiert, habe ihm keine Beachtung geschenkt. Warum also sollte er sich jetzt kooperativ zeigen? Es spielt keine Rolle. Ich habe nicht vor, auf einen weiteren Urknall zu warten, von dem ich noch nicht einmal weiß, ob er stattfinden wird. Ich stehe auf. Ich zwinge meinen Körper zu lächeln, zeige ihm, wo es lang geht.
Ich blicke auf den Zettel. Worte, die beschreiben, wie jemand auf dem Dach eines zehnstöckigen Gebäudes steht. Über jemanden, dessen Universum kollabiert. Über einen Zettel. Es wird ruhig.

(244 Wörter - Wintersemester 99/00)

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